Industrial Metaverse

Sie ist da: Die Parallelwelt der Industrie. Was bringt das Industrial Metaverse? Und wo steht die Entwicklung? Urs Reimann, Head of Digital Transformation bei Bystronic, gibt Antworten.

Metaverse

1989, Seattle: Sci-Fi-Autor Neal Stephenson schreibt an seinem Roman «Snow Crash». Darin interagieren Menschen in einer virtuellen Welt, verbringen dort ihre Freizeit, treiben Handel oder präsentieren ihre Kunst. Spezielle Brillen ermöglichen den Zugang. Dieses Paralleluniversum nennt Stephenson Metaverse. Heute, über 30 Jahre später, existiert das Metaverse wirklich. Zwar bezahlen die Avatare im «echten» Metaverse mit Bitcoin statt «Quicksilver» und konsumieren keine Droge namens «Snow Crash», die sie anfällig für Manipulation macht. Ansonsten kommt das Metaverse Stephensons Vision erstaunlich nahe.

Eine vollkommen neue digitale Gesellschaft und Wirtschaft, in der die Menschen spielerisch – «gamifiziert» – lernen und arbeiten: Das Potenzial des Metaverse ist enorm. Treiber dahinter sind Techkonzerne wie Meta, aber auch der US-Game-Sektor mit Unternehmen wie Epic Games oder Roblox Corporation. Sie alle betreiben bereits ihre eigenen Metaverse-Plattformen. Aktuell kommen aber auch immer mehr Lösungen auf Basis von computergestütztem Zeichnen (CAD) auf den Markt. Sie bedienen die spezifischen Bedürfnisse der Industrie und formen eine neue Entwicklung: das Industrial Metaverse. Herzlich willkommen.

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Urs Reimann, was steckt hinter der Industrieversion des Metaverse?

Im Kern geht es um die virtuelle Darstellung existierender Fabriken. In diese Welten können die Avatare realer Menschen eintauchen, wie beim kommerziellen Metaverse.

Wie muss ich mir so eine virtuelle Fabrik vorstellen?

Einerseits sehr realistisch: Das Industrial Metaverse basiert auf den CAD-Daten der vorhandenen Maschinen und Anlagen. So können User bis auf die kleinste Schraube heranzoomen. Zudem senden die Maschinen ihre Daten laufend an das Metaverse. Diese kommen dort fast ohne Zeitverzögerung an. Andererseits können die Daten zum Beispiel ganz anders dargestellt werden als in der Realität. So wird für die Menschen räumlich wahrnehmbar, was gerade auf den Maschinen passiert.

Geben Sie mir den 3-D-Durchblick.

Stellen Sie sich vor: Ihr Avatar geht durch die Fabrikhalle und rechts und links leuchten auf Screens Maschinendaten auf: Temperatur, Drehzahl, Druck. Oder noch besser: Es gibt ein Datencockpit, wo die Daten gleich miteinander in Bezug gesetzt und Problemwahrscheinlichkeiten berechnet werden. Sie müssen also nicht mehr physisch von Maschine zu Maschine gehen, langweilige Reports lesen oder auf statische Bildschirme blicken. Im Metaverse erfassen Sie Informationen besser und schneller, können so zügiger auf Probleme reagieren und haben auch noch Spass. Datenanalysen werden zum Erlebnis.

Wie sieht die Fabrikhalle denn aus?

Zum Beispiel futuristisch oder mit bodenlangen Glasfenstern. So arbeitet es sich besser als in einem grauen Gebäude, nicht wahr?

Kann ich mir denken (ich arbeite auf einer Zeitungsredaktion).

Abwechslungsreiche Umgebungen führen zu besseren Ergebnissen. Die kreative Gestaltung des Arbeitsumfelds ist aber eher ein Nebenschauplatz. Der grössere Nutzen des Industrial Metaverse liegt darin, analoge Räume virtuell zu optimieren oder neue Räume bis ins Detail zu erschaffen.

Wie das Datencockpit von vorhin?

Richtig. Ein anderes Beispiel wäre ein Labor für die Fernzusammenarbeit, das mit allem ausgestattet ist, was es für modernste Produkteentwicklung braucht: einem 3-D-Drucker, umfassenden Materialbibliotheken, Präsentationsräumen. All das gibt es im Industrial Metaverse absolut platzsparend und kostenlos. Sie sehen: Das Konzept hat das Potenzial, die Innovation und Effizienz in der Industrie zu revolutionieren.

Neben Fernzusammenarbeit und Datenanalyse: Was sind weitere Anwendungsgebiete?

Prototypen müssen zum Beispiel nicht mehr physisch gebaut werden. Oder industrielle Prozesse können realistisch simuliert werden, um die Auswirkungen von Veränderungen vorherzusagen und zu optimieren. Auch müssen Maschinen für Präsentationen nicht mehr um die halbe Welt transportiert werden. Und Marketing-Abteilungen kommen schnell und einfach zu hochaufgelösten Bildern von Maschinen aus jedem erdenklichen Winkel.

Die Revolution in der Markenbindung: NFTs

Non-Fungible Tokens, kurz NFTs, spielen im (Industrial) Metaverse eine entscheidende Rolle. NFTs sind digitale Vermögenswerte, zum Beispiel digitale Kunst-, Grund- oder Sammlerstücke. Sie regeln den eindeutigen Besitz und bestätigen die Echtheit eines Assets. NFTs haben im Metaverse aber auch die Funktion von Tickets oder Belohnungen. Dies können Industrieunternehmen für sich nutzen: Via NFT erhalten Kundinnen und Kunden zum Beispiel exklusiven Zugang zu digitalen Erlebnissen, Inhalten oder Veranstaltungen. Zudem fördern NFT das Community-Building: Sie ermutigen Nutzerinnen und Nutzer dazu, an speziellen Aktivitäten teilzunehmen und sich in Gruppen und Gemeinschaften zu engagieren, die ihre Interessen und Werte teilen. Kunden- und Markenbindung at its best.

Was ist das der grösste Nutzen für Bystronic?

Wir haben das Industrial Metaverse ursprünglich eingeführt, um den Aufwand für unsere Maschinenschulungen zu reduzieren – ein Painpoint für viele Industrieunternehmen. Bis anhin mussten wir für die Schulungen unzählige PDFs und Videos anfertigen und immer wieder anpassen, da die Maschinen ja laufend weiterentwickelt werden. Im Metaverse passiert das Update auf Basis der aktuellen CAD-Daten automatisch. Ausserdem lassen sich die Trainings wesentlich unterhaltsamer gestalten – mithilfe von AR (Augmented Reality) sogar direkt an der Maschine.

Wie läuft das ab?

Die Mitarbeitenden tragen AR-Brillen, wo die Anleitungen zum Beispiel oben links eingeblendet werden. Parallel dazu führen sie die Handgriffe gleich praktisch aus, statt sich an theoretischen Unterlagen abzuarbeiten. Wie das kommerzielle Metaverse vereint auch die Industrieversion die virtuelle Realität mit der physischen und erweitert diese dadurch.

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Das Metaverse und das Web 3.0

Das reine Informationsinternet war gestern: Jetzt kommt das Web 3.0. Das kommerzielle und industrielle Metaverse sind Bestandteile davon. Damit sollen sich virtuelle Erlebnisse anfühlen wie im echten Leben. Aber zum Web 3.0 gehört weit mehr: Es basiert auf der Blockchain-Technologie und wird dezentral gesteuert. Denn es soll von niemandem mehr kontrolliert werden, auch nicht von den grossen Techfirmen.

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Bleiben wir beim Praktischen: Wie funktioniert der Zugang zum Industrial Metaverse?

Die Userinnen und User loggen sich via PC oder Handy in die Metaverse-Plattform ein. Um sich darauf zu bewegen, bleiben sie entweder auf diesen Geräten oder verwenden je nach Anwendung eine AR-Brille oder auch eine VR-Brille. Damit tauchen sie ganz in die virtuelle Welt (Virtual Reality, kurz VR) ein.

Und wie verbreitet sind Metaverse-Lösungen in der Industrie bereits?

Dieser Prozess nimmt gerade richtig Fahrt auf. Denn die Technologien, auf denen das Industrial Metaverse basiert, haben in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht: AR, VR, das Internet der Dinge (IoT), das Maschinen und Geräte miteinander vernetzt, künstliche Intelligenz. Zudem sind die Technologien heute mit sehr vielen Hardware- und Softwaresystemen kompatibel. Die Einführung und der Betrieb der Plattformen sind dadurch unkompliziert und relativ günstig geworden. Und: Es gibt immer mehr Plattformlösungen auf CAD-Basis. Kommerzielle Metaverse-Plattformen wie Sandbox oder Roblox sind für die Industrie nicht geeignet; sie sind zu wenig detailgetreu.

Ich resümiere: Das Industrial Metaverse läutet für Produktionsbetriebe eine neue Ära ein. Gibt es auch Risiken?

Sogar einige. Die grösste Herausforderung ist sicher der Schutz und die Sicherheit von Daten – wie bei den meisten digitalen Innovationen. Aber auch AR- und VR-Brillen haben ihre Tücken: Stellt man sie nicht ergonomisch ein, können sie den Augen schaden oder Kopfschmerzen verursachen. Ausserdem ist das Industrial Metaverse ein zweischneidiges Schwert in Sachen Nachhaltigkeit.

Wegen des hohen Energieverbrauchs?

Richtig. Einerseits sparen digitale Darstellungen und Simulationen zwar viel Material und Energie. Andererseits fressen die ganzen Rechenprozesse und Datenübertragungen eine Menge Strom. Und auch für die Herstellung der Brillen braucht es Ressourcen. Es ist deshalb wichtig, nachhaltige Lösungen zu finden, zum Beispiel durch die Nutzung erneuerbarer Energien und effiziente Software-Algorithmen. Denn eines steht fest: Das (Industrial) Metaverse lässt sich nicht aufhalten.

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Text:

Sarah Hadorn

Mich interessiert, wie neue Technologien die Welt und unsere Gesellschaft verbessern können. Ganz ernsthaft. Dazu möchte ich Geschichten erzählen und Menschen mit Ideen und Konzepten treffen. Hauptinteressen: nachhaltige Entwicklung, alles mit Soziologie – wenn auch keine Soziologin. Ansonsten: französischer Käse, dicke amerikanische Romane, Katzen.

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