Helfen in der Altenpflege bald Roboter aus?

Schon heute herrscht in der Pflegebranche chronischer Fachkräftemangel, der demografische Wandel verschärft diese Entwicklung noch. Ein Forscherteam des Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt entwickelt deshalb Roboter für Altenheime.

Roboter

Die kleine Einzimmerwohnung könnte so in einem Möbelkatalog abgebildet sein: Knallbunte Früchte aus Plastik liegen auf der Küchenzeile, das Bild eines saftigen Bratens klebt vorn am Backofen, ein grosser Fernseher hängt über einer Wohnwand, davor steht ein kantiges Sofa und ein Schränkchen. Nur der Rollstuhl will nicht so recht in die kulissenhafte Szene passen. Und doch ist hier alles nur seinetwegen aufgebaut.

Die Einzimmerwohnung ist ein Versuchslabor am Institut für Robotik und Mechatronik des Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Hier lernt EDAN, der Rollstuhl, zu funktionieren. Jörn Vogel und sein Team bringen es ihm bei. Denn EDAN ist mehr als eine Fortbewegungshilfe, er ist eine „robotische Forschungsplattform“. Vollgepackt mit Elektrik und einem Computersystem mit künstlicher Intelligenz. Dank Kameras und Sensoren an der Kopfstütze kann EDAN seine Umwelt betrachten und mit ihr interagieren. Oder, wie die Entwickler sagen, sie „manipulieren“. Möglich macht das sein blau-silberner Roboterarm mit einer feingliedrigen Hand.

EDAN ist mehr als eine Fortbewegungshilfe, er ist eine „robotische Forschungsplattform“. Vollgepackt mit Elektrik und einem Computersystem mit künstlicher Intelligenz.

Gesteuert wird der intelligente Rollstuhl mithilfe eines Elektromyografen (EMG), der misst Muskelsignale. Es gibt Krankheiten, wie die spinale Muskelatrophie, die Lähmungen am ganzen Körper verursachen. Das Gehirn aber schickt weiter Signale an die Muskeln, die kann das EMG messen und EDAN in Bewegung umsetzen. EDAN (EMG-controlled daily assistant) ist für Menschen mit motorischen Einschränkungen gedacht. Er kann aber auch mit einem Joystick manövriert werden oder über ein Tablet, das normalerweise an seiner Armlehne klemmt.

Jetzt liegt es in der Hand von Jörn Vogel. Er will zeigen, was EDAN kann und tippt auf den Screen. Das Tablet zeigt EDANs Kamerablick auf die Laborwohnung, im Fokus: das Schränkchen. Vogel wählt den „Power Griff“. Ab jetzt weiss der Rollstuhl, was er zu tun hat. Die oberste Schublade des Schränkchens ist grün markiert. Der Rollstuhl fährt an, korrigiert die Richtung und nähert sich seinem Ziel. Sein Roboterarm bewegt sich nach oben – es schwingt Eleganz mit. Das ermöglichen sieben Gelenke mit Drehmomentsensoren für präzise Positionierung. EDAN legt seine gummierten Fingerkuppen vorsichtig auf den Schubladengriff. Er umschliesst ihn aber nicht, wie es ein Mensch tun würde. Er drückt einfach mit etwas Kraft darauf und setzt langsam zurück. Die Schublade öffnet sich. Drin liegt eine Plastikbanane.

Illustration of a robot hand pushing the button on a coffe machine by Liebana Goñi

Jörn Vogels Roboter können helfen

Der DLR-Standort Oberpfaffenhofen bei München ist mit rund 2000 Wissenschaftler eines der grössten Forschungszentren im deutschsprachigen Raum. Vogel leitet hier das Projekt SMiLE: „Servicerobotik für Menschen in Lebenssituationen mit Einschränkungen“. EDAN soll für Menschen, die sich krankheits- oder altersbedingt nicht mehr bewegen können, Alltagsaufgaben übernehmen: ein Fenster schliessen oder ein Glas Wasser einschenken.

Und das nicht nur in privater Umgebung: „Unsere Roboter können in ein paar Jahren dem Personal und den Bewohnern in stationären Pflegeeinrichtung helfen“, erklärt Vogel. Der 37-Jährige steht neben EDAN im Wohnzimmerlabor, das umgeben ist von Computerbildschirmen und Whiteboards, dicke Kabeltrassen laufen über den Fussboden. Vogel grinst, er ist in seinem Element. Er hat eine freundliche, verbindliche Art und ist einer dieser Forscher, die ihre Begeisterung für die eigene Disziplin auch in Worte fassen können. Etwa: „Wir wollen Menschen mit unseren Robotersystemen ein Stück Selbstständigkeit zurückzugeben.“ Oder: „Unsere bisherigen Experimente waren riesige Erlebnisse für mich.“

Wir wollen Menschen mit unseren Robotersystemen ein Stück Selbstständigkeit zurückzugeben.

Vogel hat bereits 2012 gesehen, wie Roboter Menschen helfen. Damals war er an einem Experiment beteiligt, das später im Fachblatt Nature publiziert wurde: Einer Probandin wurde ein Implantat ins Gehirn gepflanzt. Dieses reagierte auf ihre Gedanken und sendete sie als Kommandos an einen Roboterarm. Das gleiche Modell, das modifiziert heute in EDAN steckt. Die Bedienung war rudimentär: Die Probandin Cathy Hudginson konnte mit ihrer Gehirn-Computer-Schnittstelle lediglich „vor“, „zurück“, „links“, „rechts“, „greifen“, „anheben“ und „kippen“ befehlen.

Doch die querschnittgelähmte Frau konnte so ohne menschliche Hilfe aus einem Becher zu trinken. „Es war das erste Mal seit 15 Jahren, dass sie selbstständig ein Getränk zu ihrem Mund führen konnte. Hatte sie Durst, musste sie jeweils warten, bis jemand fragt. Seit einem Schlaganfall kann sie nicht mehr sprechen“, sagt Vogel.

Experten unterschiedlicher Disziplinen schliessen gemeinsam „die Lücke“

Mit seinen Robotern will Vogel Arbeitskräfte in der Pflege nicht ersetzen. Im Gegenteil: Die Belastung für Pfleger soll gesenkt werden, um die Qualität ihrer Arbeit zu steigern. „Man kann menschliche Pflege nicht ersetzen. Einem Roboter fehlt die Empathie dazu“, sagt Vogel. Wenn aber mal eine Tasse runterfalle, könne der Roboterarm sie wegräumen und den Fleck aufwischen. Auf Zuruf. EDAN soll assistieren, nicht herumfahren und selbst nach Aufgaben suchen.

Man kann menschliche Pflege nicht ersetzen. Einem Roboter fehlt die Empathie!

SMiLE ist aus der Assistenzrobotik für die Weltraumfahrt entstanden. Ursprünglich war es Aufgabe der Roboter, das DLR forscht neben EDAN noch an weiteren Systemen, Astronauten im All zu unterstützen. Später zeigte sich, dass sie vieles mitbringen, um eine zweite Branche zu verändern: die Pflege. In vielen europäischen Ländern herrscht Fachkräftemangel, Stellen sind unbesetzt. In Deutschland ist von 80‘000 die Rede. Hochrechnungen gehen davon aus, dass in 15 Jahren rund 150‘000 bis 300‘000 Pfleger fehlen könnten.

Weil Ingenieur Vogel und sein Team zu wenig vom Pflegealltag wissen, arbeiten bei SMiLE Experten aus der Robotik, der Pflegeethik, der Pflegewissenschaft und der Pflegedokumentation zusammen: Welche ethischen Voraussetzungen gelten für die Arbeit mit körperlich versehrten Menschen? Welche Aufgaben können von Robotern übernommen werden? Mitte des Jahres wird die Laborphase aus Oberpfaffenhofen in eine reale Pflegeumgebung der Caritas in Garmisch-Partenkirchen verlegt. Dort treffen Pflegebedürftige, Pfleger und Roboter aufeinander.

„Die Lücke schliessen“ – so nennt Vogel diesen Schritt. Roboter kennen die meisten Menschen nur aus Film und Fernsehen. Was sie wirklich können und was nicht, will er bei diesem Zusammentreffen zeigen. „Im Gegenzug interessiert uns, welche Hilfe sich Pfleger wünschen und welchen Service die Pflegebedürftigen“, führt Vogel aus. Er möchte sein System in Garmisch-Partenkirchen nicht testen, sondern realistische „Anwendungsszenarien identifizieren“, und sie später weiterentwickeln. Er hofft, dass Pfleger und Heimbewohner in ihrer gewohnten Umgebung die besten Ideen dafür haben.

Illustration of a robot hand opening a drawer by Liebana Goñi

Variation ist die Herausforderung

Sich zu bewegen, das lernt EDANs Roboterarm durch Menschenhand. Dafür wählt Vogel auf dem Tablet jetzt die Einstellung „arm manual“: So lässt sich der Arm, der ganz glatt und überraschend warm ist und sachte vibriert, was an der Elektrik und den Motoren in seinem Inneren liegt, leicht führen. Vogel packt zu und streckt, beugt und dreht ihn in ständig neue Positionen, er krümmt die Finger oder lässt die Hand in der Luft verharren. So übt EDAN, wie bei einem Paartanz mit seinem Ingenieur, zu wischen, zu greifen, zu „manipulieren“. So hat er auch gelernt, eine Schublade zu öffnen oder eine Tasse zu halten.

Die Roboter sollen „verstehen“, dass sie ein heruntergefallenes Glas nicht nur aufheben, sondern auch den Fleck aufwischen sollen

„Die grösste Herausforderung ist, mit Variation umzugehen“, sagt Vogel. „Unser System lernt heute, seine Sensordaten zu interpretieren und richtige Schlüsse zu ziehen. Wir wollen nicht jedes Objekt im Raum einzeln modellieren, sondern EDAN beibringen, von einer speziellen auf viele verschiedene Tassen zu schliessen.“ Die Roboter sollen „verstehen“, dass sie ein heruntergefallenes Glas nicht nur aufheben, sondern auch den Fleck aufwischen sollen. Diese Teilautonomie zuverlässig und robust, also wenig fehleranfällig, zu programmieren – das ist der schwierigste Schritt.

Forschung nach Vorsorgeprinzip

Im Labor darf EDAN Fehler machen, Gegenstände fallen lassen. Später soll er unfallfrei navigieren, auch wenn er sich in seiner Umgebung nicht auskennt. Er darf in Pflegeeinrichtungen keine Gefahr für Menschen sein. Die technischen Voraussetzungen dazu hat er, seine Sensoren arbeiten feinfühlig. Das hat ein Schwesternprojekt gezeigt: EDANs Robotersystem wird auch für die Chirurgie erforscht, um bei minimalinvasiven Eingriffen zu assistieren. Für ein Experiment führte die Roboterhand ein Skalpell in Richtung einer Schweinehaut. Bevor die Klinge eindrang, detektierte das System den Kontakt. Kein Schnitt, keine Verletzung. „So fein kann es justiert werden“, sagt Jörn Vogel. „Die Sicherheit ist am wichtigsten. Für den Umgang mit Menschen halten wir uns an das Vorsorgeprinzip und haben immer einen Finger am Notaus.“

Das Spannende an EDAN ist, dass er sich ohne Kommando von aussen nicht bewegt. Wir werden deshalb in den nächsten Jahren viel dazulernen, wie sich Menschen mit dem System verhalten und es nutzen.

Das SMiLE-Projekt läuft noch 4,5 Jahre. Solange ist die Finanzierung durch das bayerische Wirtschaftsministerium und das DLR gesichert. Mit 4,5 Millionen Euro. Dann hofft Vogel, dass EDAN viele neue Anwendungsszenarien gelernt hat. Auch wenn die erst konkret werden, wenn Probanden dazukommen. Wenn sie „in the Loop“ sind, wie es Vogel nennt. „Das Spannende an EDAN ist, dass er sich ohne Kommando von aussen nicht bewegt. Wir werden deshalb in den nächsten Jahren viel dazulernen, wie sich Menschen mit dem System verhalten und es nutzen. Vielleicht nutzen sie es ja ganz anders, als wir es programmiert haben.“

Text:

Johannes Giesler Portrait

Ich möchte mit meinen Wissenstexten etwas mehr Verständnis finden und für andere schaffen. Kein Thema, das ich bisher bearbeitet habe, ist Schwarz oder Weiss. Erst im Grau dazwischen wird's spannend. Ich beschäftige mich zurzeit viel mit: gefährlicher Sprache, Zukunftstreiber und veganer Ernährung.

Illustration: Liebana Goñi

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